Connect with us

Community

Der verhängnisvolle Gebrauch von sexuell stimulierenden Drogen durch schwule Männer

Karl Anton Gerber

Der verhängnisvolle Gebrauch von sexuell stimulierenden Drogen durch schwule Männer
Kar Anton Gerber im Interview: Neue Wege für schwule Männer, die auch ohne Drogenkonsum eine erfüllende Sexualität erleben wollen

Herr Gerber, wie wichtig ist das Thema zur Zeit? Kann man in Bezug auf den Drogenkonsum von einer Epidemie sprechen? Hat sich das Konsumverhalten in der COVID-Pandemie nochmal verändert? Wie stark sind queere Menschen betroffen?

Schon mal gleich vorweg: Es gibt keine repräsentativen Zahlen für Deutschland. Die vorliegenden Daten zum Substanzkonsum queerer Menschen basieren auf freiwilligen Online-Befragungen. Dazu drei Ergebnisse aus unterschiedlichen Studien: In der europäischen Studie EMIS 2017 haben 3,6 Prozent der Teilnehmenden aus ganz Europa angegeben, im vorangegangenen Jahr Crystal Meth konsumiert zu haben. Die deutschen Zahlen liegen höher: Im German Chemsex Survey 2018 waren es 8,16 Prozent der Befragten, und in einer Hamburger Studie, die Anfang 2022 veröffentlicht wurden, gaben 13,8 Prozent der Teilnehmenden an, in den 12 Monaten zuvor Crystal Meth konsumiert zu haben. Unklar ist, ob diese unterschiedlichen Ergebnisse wirklich zeigen, dass mehr queere Menschen Drogen konsumieren, oder ob die Zahl der teilnehmenden Drogenkonsumenten in den Studien einfach unterschiedlich hoch war. Oder vielleicht trauen sich inzwischen einfach mehr Konsumenten, ihren Konsum anonym anzugeben?

Wenn man die Daten zu Crystal Meth übrigens mal mit den Zahlen für Cannabis (zw. 27 und 43 %), Poppers (48 – 61 %) oder Alkohol (in allen Studien über 90 %) vergleicht, glaube ich nicht, dass wir von einer Crystal Meth-„Epidemie“ sprechen können.
Trotzdem ist die Lage ernst, weil wir in der Community nicht darüber sprechen, wieso für manche von uns Sex nur noch mit Substanzen geil ist, und wieder andere nur mit Substanzen überhaupt Sex haben können. Und da beziehe ich Alkohol, Cannabis, Poppers und andere Drogen wie Ecstasy, Kokain, Speed, G, Keta, 3mmc etc. ausdrücklich mit ein!

Wie sich das Konsumverhalten während der Pandemie verändert hat, lässt sich nur erahnen und von Untersuchungen aus der Gesamtbevölkerung ableiten. Eine Untersuchung zum Alkohol- und Cannabis-Konsum während der Pandemie ergab vereinfacht gesagt, dass Menschen, die schon vor der Pandemie viel konsumierten, während der Pandemie tendenziell noch stärker konsumierten. Bei allen anderen Gruppen blieb der Konsum eher gleich oder verringerte sich sogar.

Wie problematisch sind Apps wie Grindr und Scruff? Wird hier ein Verlangen nach Drogen mit ausgelöst? Warum sind queere Menschen so empfänglich für synthetische Drogen/berauschende chemische Substanzen? Ist der Gebrauch verantwortlich für die hohe Zahl der HIV-Infektionen und anderer sexuell-übertragbarer Krankheiten?

Grindr und Scruff an sich sind aus meiner Sicht nicht problematisch, im Gegenteil: Sie bringen Menschen mit ähnlichen Interessen, auch sexuellen Interessen zusammen. Natürlich unter anderem auch Konsumenten. Problematisch ist unser Umgang mit den Dating-Apps, übrigens meiner Meinung nach auch mit Gayromeo und Co. Uns Usern wird über die Suchfunktion vorgegaukelt wird, es könne das perfekte Match geben. Und weil ja immer irgendwas „mit den Typen nicht stimmt“, weil die Haare zu blond (oder zu schwarz), weil der Bizeps zu schlaff (oder zu stark trainiert), der Penis zu klein (oder zu groß, aua!), der Fetisch zu kinky (oder zu sehr blümchen), der Typ zu tuntig (oder zu macho) ist, werden die Besuche mit der Zeit immer frustrierender.
Wenn man dann endlich mal mit einem coolen, sexy Typen chattet, passiert es nicht selten, dass der dann mit einem Mal offline ist, einen ghostet oder einfach ohne Ansage blockiert. Und egal wie dick unser Fell ist, diese Ablehnung tut weh.

Queere Menschen sind empfänglicher für Substanzkonsum, weil viele schon ihr Leben lang bewusst oder unbewusst spüren, dass sie nicht so richtig dazu gehören, dass sie anders sind. Menschen sind aber „Herdentiere“, wir sind auf die Verbindung zu anderen Menschen angewiesen. Besonders als Kinder lernen wir, uns anzupassen, damit wir nicht von denen im Stich gelassen werden, auf die wir zum Leben angewiesen sind. Häufig gehört zu dieser Anpassung, dass wir unsere queere Seite verstecken, uns dafür schämen.
In der Community, auch auf den Online-Datingplattformen, setzt sich die Ausgrenzung dann fort. Als ich mit 52 zum ersten Mal Crystal Meth konsumiert habe, kam ich selbst für Männer Ende 40 wegen meines Alters nicht mehr für Dates in Frage. Und dass ich HIV-positiv bin, war für viele Männer auch ein Problem. Für die Männer, die ich im Konsum kennengelernt habe, war mein Alter und mein Immunstatus völlig egal. Ich war mit einem Mal Mitglied in einer völlig neuen Szene, und das fühlte sich anfangs ganz gut an.
Mit der Zeit wurde ich aber auf Crystal Meth genauso egoistisch wie viele der Typen, die ich datete. Für etliche war ich einfach nur der Typ, der immer was Stoff da hatte, zu dem man konsumieren kam, um nach einer Stunde ohne mich weiterzuziehen. Und wer mich nicht zufriedenstellte, den hab ich rausgeschmissen, um mir ein neues Date klarzumachen.

Es gibt in Deutschland keine Studien, ob durch Chemsex die Zahl der HIV-Infektionen zunimmt. Die Deutsche Aids-Hilfe geht davon aus, dass es keinen Zusammenhang gibt, weil die Zahl der HIV-Infektionen seit etlichen Jahren sehr deutlich zurückgeht. 2007 gab es lt. Robert-Koch-Institut noch knapp 3.000 Neuinfektionen in der Gruppe der Männer, die Sex mit Männern haben, 2021 waren es etwa 1.000 Neuinfektionen.
Wer sich mit dem Thema beschäftigt, wird aber feststellen, dass viele Konsumenten auch HIV-infiziert sind, die beinahe alle gut behandelt und unter der Nachweisgrenze sind, also kein HIV-Infektionsrisiko für ihre Sexualpartner darstellen.

Was sind Ihrer Meinung nach die drei größten Hemmnisse, denen Menschen während der Genesung ausgesetzt sind? Sind die Ursachen und die Heilungsprozesse bei Chemsex-Sucht und Sexsucht verschieden?

Das erste Hemmnis ist sicherlich der ganz natürliche Sexualtrieb des Menschen. Auch wenn gleichgeschlechtlicher Sex nicht dazu beiträgt, ist die biologische „Programmierung“ doch die Erhaltung der Art. Deshalb wird sexuelle Betätigung durch das Dopamin-System auch in besonderer Weise „belohnt“.
Kokain, Ecstasy, Speed und 3- oder 4-mmc, all diese Substanzen verstärken diese Belohnung, doch Crystal Meth bewirkt eine enorme Dopamin-Ausschüttung. Für viele Konsumenten ist Sex ohne Droge nur noch langweiliges Blümchen-Zeug. Das Hirn „lernt“ im wahrsten Sinn des Wortes, dass Geilheit durch Konsum noch geiler wird, und dass umgekehrt aber auch durch den Konsum die Geilheit auch „eingeschaltet“ werden kann.
Für die Genesung wird deshalb von David Fawcett, aber auch anderen Therapeut:innen, ein echter sexueller „Reset“ empfohlen, der mehrere Monate Enthaltsamkeit erfordern kann.
Das zweite Hemmnis ist die große Scham vieler Konsumenten über ihre sexuellen Erlebnisse im Konsum. Das Dopamin-System ist unersättlich, und braucht ständig neue Reize. Viele Konsumenten lassen sich mit der Zeit auf immer härtere, wildere sexuelle Spielarten ein, auf die sie sich ohne Konsum niemals eingelassen hätten. Scham ist ein unangenehmes Gefühl, das einige dann auch nur durch erneuten Konsum bekämpfen können.
Und drittens ist jeder Rückfall schwierig. Viele haben dann das Gefühl, versagt zu haben. Sie fühlen sich dazu verdammt, weiter zu konsumieren, weil sie persönlich nicht stark genug sind, ihren Suchtdruck zu kontrollieren.
Scham, Versagensängste und Charakterschwäche sind dazu bei vielen von uns lebenslang antrainiert. Sich davon zu befreien, erfordert Geduld und Nachsicht mit sich selbst. Und Verständnis bei Freunden, Verwandten, Berater:innen und Therapeut:innen.

Viele Städte bieten Anlaufstellen und Hilfe zum Ausstieg oder kontrollierterem Umgang. Was ist der beste Weg auszusteigen, welche Wege zeigt das Buch auf? Was ist das beste Rehabilitationsprogramm für MSM/Chemsex-User?

Jeder Konsument muss seinen eigenen Weg finden, mit seinem Konsum umzugehen. Ich habe bei der queeren Suchtselbsthilfegruppe SHALK Menschen getroffen, die mir gute Tipps gegeben haben, was meine nächsten Schritte sein könnten. Und bei der Aidshilfe Köln habe ich unvoreingenommene Berater gefunden, die mich dabei unterstützt haben, meinen Weg zu finden. Für mich war der Ausstieg die einzige Option, kontrollierter Konsum kam für mich nicht in Frage.
Bei Crystal Meth ist, ähnlich wie bei Kokain, Speed oder 3-/4-mmc, keine Entgiftung vorgesehen. Anders als bei Alkohol- oder Tablettenabhängigkeit gibt es keine körperlich gefährlichen Entzugserscheinungen, wenn die Substanzen nicht mehr konsumiert werden.
Trotzdem kennen sicher viele Crystal Meth Konsumenten die depressiven Momente, die auf intensive Konsumphasen folgen. Wer Sorge hat, sich in solchen Momenten selbst Schaden zuzufügen, kann sich zum eigenen Schutz in eine Landesklinik begeben.
Bei einer Drogenberatungsstelle können Konsumenten einen Antrag für eine Entwöhnungs-Rehabilitation bei der Rentenversicherung stellen. Die Bearbeitung kann im Rheinland schon mal gute drei Monate dauern, dazu kommt noch die Wartezeit auf die Klinik.
Die salus klinik in Hürth bei Köln ist zur Zeit die einzige Reha-Klinik im deutschsprachigen Raum, die ausdrücklich ein Entwöhnungsprogramm für Chemsex-User entwickelt hat. Das Programm dauert in der Regel zwischen 18 und 24 Wochen, die Wartezeiten betragen mehrere Monate. Bei meinem letzten Kontakt habe ich erfahren, dass dort aktuell auch ein Entwöhnungsprogramm für Trans-Menschen entwickelt wird.
Aber natürlich bieten auch andere Kliniken Drogen-Entwöhnungsprogramme an, sowohl stationär als auch im Rahmen von Tageskliniken. Welches Angebot das individuell geeignete ist, können Konsumenten mit ihren Drogenberater:innen besprechen.

Glauben Sie das Buch kann bei einer Rehabilitation helfen? Wird durch die ermöglichte Reflexion und Selbsterkenntnis der „Weg aus dem Konsum“ unterstützt?

Mir hat das Buch enorm geholfen: Ich habe jahrelang geglaubt, meine HIV-Infektion wäre für mich kein Thema mehr. Pustekuchen! Auch das Wissen um die neurologische Wirkung der Substanz im Gehirn, und was das für die Entwöhnung bedeutet, war für mich wertvoll.
Und von den Kapiteln über die Geduld und Nachsicht mit mir selbst, über meinen eigenen perfektionistischen Anspruch kann ich bis heute immer wieder profitieren, wenn ich mal wieder unzufrieden mit mir selbst bin.

Zu guter Letzt, was sind die Möglichkeiten, wie unsere Gemeinschaft sowohl diejenigen in Genesung als auch diejenigen, die Drogen nehmen, unterstützen kann?

Wo fange ich da an: Zum einen, und das betrifft nicht nur unsere Community, muss unsere Gesellschaft lernen, dass Abhängigkeit eine psychische Erkrankung ist, die nicht allein durch Willensstärke in den Griff zu kriegen ist. Ein erster Schritt dazu könnte sein, sich mal zu überlegen, ob man sich das Wochenende in der Szene ohne Alkohol überhaupt vorstellen kann. Der Weg von der Gewöhnung zur Abhängigkeit ist häufig nur kurz.
Als Community müssen wir uns aber sowieso die Frage stellen, wieso wir uns selbst zum Teil auch gnadenlos untereinander ausgrenzen, und wie wir übereinander sprechen. Wenn Drogenkonsumenten nur als „Junkies“ oder „Meth-Opfer“ wahrgenommen und abgestempelt werden, gibt es genug Gründe, in der Teilszene der Konsumenten zu bleiben, und wenig Anlass, sich auf den Weg der Entwöhnung zu machen.
Menschen in der Entwöhnung trauen sich häufig nicht, über ihren Konsum oder ihre Erlebnisse im Konsum zu berichten. Hier unterstützen Selbsthilfegruppen. In NRW gibt es mit SHALK zum Glück auch eine queere Suchtselbsthilfegruppe, die Gruppen in Duisburg, Köln, Aachen und ganz neu auch in Essen anbietet. Aus der Corona-Zeit bietet SHALK auch noch ein Gruppentreffen als Zoom-Konferenz an.

News: Neue Suchtberatung mitten im Ruhrgebiet
dp. SHALK e.V., die Suchtselbsthilfe und Beratung für Homo- und Bisexuelle in NRW, bietet seit langem in vielen Städten ehrenamtliche Hilfe von Betroffenen für Betroffene. Die Gruppen bieten Suchtberatung allgemein, Erstgespräche, Vermittlung zu Therapieeinrichtungen und in Fachkliniken sowie persönliche und telefonische Beratung. Ein neues Angebot startet dazu jetzt in Essen. Vorerst am letzten Montag im Monat von 19.00 Uhr bis 21.00 Uhr in der Aidshilfe Essen im Café [iks]. Sie ist angelegt als eine Selbsthilfegruppe, die sich an queere Menschen richtet, egal ob man schon eine Abhängigkeit entwickelt hat, oder man glaubt, abhängig werden zu können. Ob es das Thema Chemsex, Alkohol, Drogen anderer Art oder aber auch alle anderen Abhängigkeiten betrifft. Andre und Sven sind selbst betroffen und wissen, wie quälend dieses Verlangen sein kann. Sie tauschen sich gerne aus und vermitteln, dass man mit seinen Ängsten nicht alleine sein muss. Mehr Infos: www.shalk.de

Click to comment

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Jetzt angesagt

Friedrich Merz (CDU) Friedrich Merz (CDU)

Friedrich Merz (CDU) im FRESH-Interview: „Meine Partei hat sich zum Glück gewandelt”

Interview

Sarah Philipp Sarah Philipp

„Die Landesregierung muss unbedingt noch nachziehen“

Interview

Kai Gehring, Foto: Mirko Raatz Kai Gehring, Foto: Mirko Raatz

“Es macht einen Unterschied, ob Grün regiert!”

Community

145.000 € für CSDs in NRW

Community

Connect
Newsletter Signup