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Interview

Spitzenkandidatin zur Europawahl: Özlem Demirel (Die Linke) im Interview

dd. Özlem Alev Demirel ist eine türkisch-deutsche Politikerin (Die Linke) kurdischer Abstammung. Sie ist Mitglied des Europäischen Parlaments und Spitzenkandidatin ihrer Partei bei der Europawahl am 9. Juni. FRESH gab sie dazu ein Interview.

Frau Demirel, Sie sind nun eine der Spitzenkandidatinnen der Linken zur Europawahl. Das ist keine leichte Aufgabe. Warum ist Ihnen die Europawahl so wichtig?

Zeiten, in denen Rassisten und Faschisten stärker werden, Kriege um sich greifen und die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, sind Zeiten, in denen man den Kopf nicht einzieht, im Gegenteil. Und genau deshalb trete ich an: Gegen Militarismus und für soziale Sicherheit. Z.B. habe ich die Mindestlohnrichtlinie mit verhandelt – wenn Deutschlands Ampel-Regierung diese umsetzen würde, läge der Mindestlohn bei deutlich über 14 Euro. Für Gerechtigkeit muss man kämpfen, das habe ich als Gewerkschafterin und Tochter in einer politischen Flüchtlingsfamilie gelernt.

Die Wahlbeteiligung nimmt ab, Europawahlen scheinen für manche nicht sonderlich wichtig und interessant. Sie sehen das wahrscheinlich anders. Warum?

Nein, ich verstehe das. Die Politik der EU wirkt weit weg. Doch was hier passiert, betrifft alle unmittelbar. Egal ob bei der Wasserrichtlinie oder bei der Frage, wie der Binnenmarkt für Lohndumping missbraucht wird oder Konzerninteressen bedient. Soziale Infrastruktur bricht zusammen, aber EU- Milliarden für Waffen sind da. Man behauptet, das müsse jetzt sein, weil man so die liberale Demokratie gegen die Autoritären verteidigen könne. Doch das Gegenteil passiert. Militarismus schwächt die liberale Demokratie und stärkt die nationalistischen und autokratischen Tendenzen. Ich sehe meine Rolle darin, aufzuklären, was gerade auf EU-Ebene passiert und einzustehen für eine gerechte Wirtschafts- und Handelspolitik, für Abrüstung und eine wirkliche Sozialpolitik.

Die Gleichstellung von LGBT in der EU kommt nur schwerfällig voran. Zum Beispiel werden CSDs immer noch in Ländern wie in Polen oder Serbien verboten oder massiv behindert. Wie kann man das verbessern?

Grundechte werden zum Teil sogar zurückgedrängt. Wichtig ist, dass die CSDs in Polen, Serbien und anderen Staaten nicht allein gelassen werden. Die Linke hat sehr häufig Delegatio-
nen zu den CSDs dort entsendet, weil Leute dadurch geschützt werden. Die EU muss deutlich machen, dass Grund- und Freiheitsrechte nicht verhandelbar sind. Überall Regenbogenfahnen zu hissen, also Symbolpolitik allein, verbessert die Lebensverhältnisse nicht. 25% der queeren Menschen in der EU waren schon von Wohnungslosigkeit bedroht, die Erwerbslosenquote ist überdurchschnittlich. Als Linke sagen wir, dass queere Emanzipation immer auch eine soziale Frage ist. Ohne soziale Sicherheit kann kein Mensch frei leben.

Darf es beim Thema Bürgerrechte von Lesben, Schwulen und Transgender in der EU Zugeständnisse für Beitrittskandidaten geben?

An Beitrittskandidaten nicht, an Mitgliedsstaaten aber auch nicht. In Italien ist eine ultra-rechte Regierungschefin – und sie wird von der EU und der Bundesregierung so behandelt, als sei das normal. Diese Entwicklung ist brandgefährlich.

Schon seit Jahren gibt es die Diskussion, Entwicklungshilfe an die Einhaltung der Menschenrechte zu koppeln. Halten Sie dies für sinnvoll und umsetzbar?

Die Bundesregierung und die EU machen Deals mit Katar, mit Saudi-Arabien, mit Ländern, in denen die Rechte von Queers und Frauen mit Füßen getreten werden. `Menschenrechtsorientiert‘ ist da nichts. Die Erzählung der wertegeleiteten Außenpolitik ist eine Lüge, um die Bevölkerung hinters Licht zu führen. Außenpolitik bleibt knallharte Interessenpolitik. Dabei geht es aber weniger um die Interessen der Völker von unten, als um knallharte Kapital- oder geopolitische Interessen. Entwicklungshilfe z.B. müsste Menschen, nicht Regimen, zugutekommen, den Hunger und das Elend bekämpfen, nicht zur Stabilisierung von Regimen dienen. Und umgekehrt darf man Menschen nicht verhungern lassen, weil die Regierung dort inakzeptabel und queerfeindlich ist.

Stichwort queere Flüchtlinge. Sie kommen wieder verstärkt aus den Kriegsgebieten, und es gibt persönliche Übergriffe in Flüchtlingsunterkünften, viele haben schwere Traumatisierungen zu überwinden. Wie kann man erreichen, dass queere Menschen in der EU Asyl erhalten? Wo liegt die Aufgabe des Staates und wo bei der Community?

Leider sind wir im Moment an einem ganz anderen Punkt. SPD, Grüne FDP, aber auch CDU und die AfD wollen mit der GEAS-Reform das individuelle Recht auf Asyl de facto abschaffen. Was sie uns als Lösung verkaufen, wird keines der Probleme lösen, aber die Situation verschärfen. Lager wie Moria werden nicht mehr in der EU, aber an ihren Außengrenzen aufgebaut. Die Militarisierung an den Außengrenzen und das Sterben im Mittelmeer wird so nicht beendet. Währenddessen wird auch nichts Ernsthaftes gegen Fluchtursachen unternommen. Autoritäre Regime bleiben Premiumpartner, wenn es um Wirtschaftsinteressen geht. Besonders zynisch ist die Rolle der Grünen, die das in der Bundesregierung abgenickt haben, aber jetzt im EU-Parlament symbolisch ablehnen wollen. Ich will das Asylrecht verteidigen und Fluchtursachen bekämpfen. Auch in der BRD brauchen wir geschützte Räume für queere Geflüchtete, hier gibt es viele gute queere Initiativen, staatliche Gelder reichen aber noch immer nicht.

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