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Politik

„Nur gemeinsam sind wir stark”

Claudia Roth beim Essener CSD Empfang September 2020

 

Interview mit Claudia Roth (Grüne), Bundestagsvizepräsidentin

dd. Claudia Roth (* 1955) ist eine der bekanntesten Politikerinnen. Sie war mehrere Jahre Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Seit Oktober 2013 ist sie Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Ihr Engagement in Sachen queerer Rechte ist seit Jahrzehnten ungebrochen. Mit FRESH sprach sie beim RUHR CSD Empfang der Grünen in Essen.

Liebe Claudia Roth, wenn man einmal Bilanz zieht, was hat die queere Bewegung bisher erreicht? Sie sind ja Vorkämpferin in Sachen bunte Liebe schon zu Zeiten von Ton Steine Scherben mit Rio Reiser.

Ja, Rio hat sich nie versteckt, seine Identität nie verleugnet, das habe ich immer bewundert, und das hat mich natürlich auch für ewige Zeiten mit geprägt. Gemeinsam haben wir viel erreicht. Wir haben Öffentlichkeit geschaffen und Rechte erkämpft. Ich engagiere mich seit über 40 Jahren. Wir haben vor gerade einmal 26 Jahren diesen widerwärtigen Paragraphen 175 aus dem Strafgesetzbuch verbannt. Wir haben die Ehe für alle erstritten. Dieser Kampf war lang und sehr hart. Und er muss weiter gehen — und zwar solange, wie nicht selbstverständlich ist, was selbstverständlich sein sollte. In mehr als achtzig Staaten auf dieser Erde werden Menschen dafür inhaftiert, dass sie lieben, wen sie lieben, dass sie sind, wer sie sind. In sieben Ländern droht sogar die Todesstrafe.

Wie beurteilen Sie denn die Situation für queere Menschen in Deutschland? Es gibt immer noch Hass und Hetze, in Berlin gibt es immer mehr Meldungen über Gewalttaten in der Öffentlichkeit von Menschen mit rechter Gesinnung gegen uns.

In Deutschland reichen sich Queerfeindlichkeit, Rassismus und Sexismus, sowie Hass und Hetze die Hand — in einer Zeit, da einige wieder bestimmen wollen, wer dazugehört und wer nicht; die wollen, dass wir uns gewöhnen an ihre entgrenzte Sprache; an die ständigen Angriffe auf Minderheiten; an ihre Ideologie der Ungleichwertigkeit; die gar versuchen, die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte umzudeuten, zu relativieren, und einen Schlussstrich ziehen wollen, wo es keinen geben kann. Wort für Wort, Satz für Satz wird da die Grenze des Sagbaren verschoben. Aber nach dem Sagbaren kommt das Machbare, dem Angriff auf die Menschlichkeit folgt der Angriff auf den Menschen. Umso mehr tragen alle Demokratinnen und Demokraten, gleich welcher politischen Überzeugung, die Verantwortung, sich diesem Hass und dieser Hetze mit aller Kraft entgegenzustellen. Und darum sind die CSDs und Regenbogen-Demonstrationen wie die in Essen am 12. September so wichtig.

Sind denn Vorurteile und Ressentiments ein Phänomen der rechtsextremen Bewegung allein? Wo ist Homophobie überall zuhause?

Nein, Vorurteile und Ressentiments sind mehr oder minder in allen gesellschaftlichen Bereichen vorhanden. Bei uns in Deutschland werden beispielsweise immer noch 30 Prozent der Homosexuellen im Arbeitsleben diskriminiert oder gemobbt. Unter Trans-Menschen sind es sogar mehr als 40 Prozent. Das hat gerade eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) herausgefunden, ein Institut, das bisher nicht als Teil der „Homo-Lobby” aufgefallen ist. Auch hier in Deutschland erscheinen in einer
auflagenstarken Zeitung wie der FAZ Gastbeiträge, die von Transgenderpropaganda schwadronieren und davor warnen, dass die klassische Familie in eine Randposition gedrängt wird, nur weil in Kita und Schule vermittelt werden soll, dass unsere Welt vielfältig ist und nicht nur schwarz und weiß.

Woher kommt das fehlende Verständnis? Viele dachten wohl, mit der Ehe für alle sei alles erledigt. Wie können wir da entgegenwirken?

Ja genau, ich höre es immer wieder: Jetzt könnt ihr doch langsam mal zufrieden sein, jetzt reicht’s dann aber auch mal. Das Gegenteil ist richtig, jetzt erst recht! Wir wollen doch nicht ein bisschen gleiche Rechte, irgendwann, auf dem Papier. Wir wollen gleiche Rechte, und zwar heute, auf ganzer Linie! Geduld ist eine Tugend, heißt es dann immer. Ungeduld aber schreibt Geschichte. Lasst uns also ungeduldig sein. Lasst uns weiter streiten. Lasst uns auf die Straße gehen, bunt und queer, vereint und solidarisch — natürlich auch in Deutschland! Denn ja, auch hierzulande ist noch so viel zu tun.

Die Pandemie bedroht nun unsere hart erkämpften Freiräume. Wo sind die Rückschritte in der queeren Bewegung am härtesten?

Der notwendige, verordnete Rückzug ins Private hat auch die Sichtbarkeit von queeren Lebens- und Liebensweisen massiv eingeschränkt. Viele Menschen fühlten Einsamkeit und Isolation, gerade queere Menschen, die durch Diskriminierungen sehr viel häufiger anfällig für Depressionen oder Suizid sind. Als Kontakte jenseits der „Kernfamilie“ eingeschränkt wurden, waren gerade viele queere Menschen von ihren Freundinnen oder Partnern abgeschnitten und verloren so ihr wichtiges soziales Sicherungsnetz. Eine britische Studie hat vor kurzem bestätigt, dass der coronabedingte Lockdown zu einer „Krise der psychischen Gesundheit” unter Schwulen, Lesben, Bisexuellen und trans Menschen geführt hat. 69 Prozent der Befragten litten an den Symptomen einer Depression. 10 Prozent fühlen sich zu Hause nichtsicher. Denn während die einen vereinsamten, waren andere während des Lockdowns gezwungen, mit homo- oder transfeindlichen Familien zusammenzuleben. Und es ist ein großes Problem, dass viele Begegnungsorte für LGBTIQ mit den gewaltigen finanziellen Herausforderungen durch die Corona-Maßnahmen kämpfen müssen. Gerade jetzt müssen wir wachsam sein, der konservative Backlash ist im Windschatten der Pandemie vielerorts bereits in vollem Gange. Ungarn hat unter der Notstandsgesetzgebung die Änderung des Geschlechtseintrags von Trans* Personen gestrichen. Und in Südkorea führte ein Corona-Ausbruch in einem schwulen Club zur verstärkten Diffamierung queerer Minderheiten.

Was kann man dagegen tun? Wo wollen die Grünen ansetzen, um dem entgegenzutreten?

Gerade in diesen extremen Zeiten müssen wir Zufluchtsorte für LGBTIQ erhalten oder dafür sorgen, dass diese wichtige Funktion in neuen Formen aufrechterhalten bleibt. Darum hat unsere Bundestagsfraktion zurecht einen Regenbogenrettungschirm gefordert. Damit sollen sofort, unbürokratisch und schnell Überbrückungshilfen beantragt werden können, um Zahlungsunfähigkeit und Vereinsauflösungen abzuwenden. Bisher hat vor allem die Community durch Spenden gezeigt, wie sehr ihr diese Orte am Herzen liegen. Aber das reicht nicht! Auch von Bund und Ländern muss hier noch deutlich mehr kommen.

Außerdem fordern wir mehr Rechte für Regenbogenfamilien. Deswegen fordern wir ein Selbstbestimmungsgesetz statt dieses wahnwitzigen Transsexuellengesetzes, das vor 40 Jahren verabschiedet wurde – ein Geburtstag, der wahrlich kein Grund zum Feiern ist. 40 Jahre Transsexuellengesetz sind 40 Jahre Menschenrechtsverletzung. Deswegen fordert unsere Bundestagsfraktion gerade in einem Antrag, alle trans- und intergeschlechtlichen Menschen zu entschädigen, die unter diesem unmenschlichen Gesetz leiden mussten. Hier muss sich endlich was ändern.

Nicht zuletzt sollten wir auch all den Künstlern und Kulturschaffenden unter die Arme greifen, die uns mit ihrer Kunst erfreuen, die uns bunt und sichtbar machen, die uns in schwierigen Zeiten ein Lächeln aufs Gesicht zaubern, schöne Stunden in unschönen Zeiten schenken, und die selbst in großer existentieller Not sind. Kultur ist so viel mehr als ein Sahnehäubchen, das wir in der Krise vernachlässigen können. Wir müssen solidarisch zusammenhalten, denn nur gemeinsam sind wir stark!

 

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