FRESH-Interview mit Erik Jödicke, Bundesvorstand LSVD
dd. Erik Jödicke ist Mitglied des Bundesvorstands LSVD und LGBTIQ*-Aktivist. FRESH sprach mit ihm über aktuelle politische Themen.
Erik, der Rechtsruck bei der Europawahl ist erschreckend. Gerade zum Teil homophobe Parteien sind auf dem Vormarsch. Was muss hier geschehen, um diese Tendenz zu stoppen?
Besonders in Frankreich, Deutschland und Italien sind die Wahlergebnisse alarmierend. In allen drei Ländern haben rechtsextreme und LGBTIQ*-feindliche Parteien entweder den ersten oder zweiten Platz belegt. Es bedarf nun dringend einer umfassenden Aufklärung über die potenziellen Folgen, die Wahlsiege und Regierungsbeteiligungen dieser Parteien für marginalisierte Minderheiten wie MigrantInnen, LGBTIQ-Personen und JüdInnen haben könnten. Zudem ist eine klare Abgrenzung zu LGBTIQ-feindlichen Parteien und Parteienfamilien im europäischen Parlament erforderlich.
Ursula von der Leyens Annäherung an die EKP-Fraktion, zu der unter anderem die ehemalige polnische Regierungspartei PiS gehört, die in den letzten Jahren durch extreme LGBTIQ*-feindliche Rhetorik auffiel, und die italienische postfaschistische Regierungspartei „Brüder Italiens“, die lesbischen Paaren das Sorgerecht für ihre Kinder entziehen will, ist inakzeptabel und verunsichert zu Recht viele LGBTIQ*-Personen. Es muss unmissverständlich klar sein, dass mit solchen Partnern keine politischen Mehrheiten gebildet werden dürfen.
Die Hassgewalt gegen queere Menschen steigt dazu immer mehr. Fast täglich gibt es leider Meldungen dazu. Wie kann man die steigende Gewaltbereitschaft stoppen? CSDs alleine reichen dazu wohl nicht mehr aus.
Am 09.05.2023 stellte das BKA/BMI die Statistik über politisch motivierte Gewalttaten im Jahr 2022 vor. Laut den Zahlen von Bundeskriminalamt und Bundesinnenministerium wurden 1.499 Fälle im Bereich „sexuelle Orientierung“ und 854 Fälle im Bereich „geschlechtsbezogene Diversität“ gemeldet. Das bedeutet einen Anstieg von Vorfällen gegen lesbische, schwule, bisexuelle und queere Menschen um etwa 49% und gegen trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen um etwa 105%, wobei beide Phänomenbereiche auch Überschneidungen aufweisen können. Die veröffentlichten Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs. Nur ein Bruchteil LSBTIQ*-feindlicher Hasskriminalität wird angemessen registriert und klassifiziert. Auf 80 bis 90 Prozent schätzt Sebastian Stipp, eine von zwei Ansprechpersonen der Berliner Polizei für queere Menschen, das Dunkelfeld.
Diese Zahlen zeigen ganz eindeutig, dass es einen massiven Anstieg an Gewalttaten gegen LGBTIQ* in Deutschland gibt, und dass es eine umfassende Strategie braucht, um Queere*Menschen zu schützen, und solche Gewalt zu verhindern. CSDs müssen dabei als Teil der Lösung gesehen werden, denn sie schaffen Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit für die Probleme der Community, nicht nur in den Zentren, sondern auch in den kleinen Städten und Regionen. Sie dürfen aber nicht die einzigen Maßnahmen bleiben. Notwendig ist zunächst eine Reform der polizeilichen Erfassungsmethoden, damit ein realitätsgerechtes Lagebild über LSBTI- feindliche Hasskriminalität entsteht. Nur ein Bruchteil LSBTI-feindlicher Hasskriminalität wird angemessen registriert und klassifiziert. Es benötigt zudem mehr Inklusion von LSBTIQ und eine enge Zusammenarbeit mit LSBTIQ*-Organisationen sowie wirksame Schutzkonzepte für Aufnahme einrichtungen.
Welche Forderungen stellt der LSVD Deutschland hier zur Unterstützung der queeren Community an die Bundesregierung? Braucht es da neue Konzepte?
Was wir in Deutschland jetzt brauchen sind gesetzgeberische Initiativen, die LGBTIQ* nachhaltig schützen. Dazu gehört ein wirksamer Diskriminierungsschutz: Der Diskriminierungsschutz im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) muss ausgebaut, reformiert und wirksamer gestaltet werden. So muss auch staatliches Handeln umfassend in den Anwendungsbereich des AGG einbezogen werden. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) muss in ihren Befugnissen, ihrer unabhängigen Stellung und ihrer finanziellen Ausstattung gestärkt werden, damit sie effektiv Anfeindungen entgegentreten und vor allem vorbeugen kann. Zahlreiche Ausnahmeregelungen im AGG müssen beseitigt und ein echtes Verbandsklagerecht für Antidiskriminierungsverbände eingeführt werden.