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Gesundheit

„HIV 2022 hat nichts mehr mit HIV vor 20 Jahren zu tun”

Aids red ribbon in hands on the background of sunset.

dar. Medizinisch gibt es für Menschen mit HIV kaum noch Einschränkungen. Die große Schwierigkeit sind aber Vorurteile gegenüber HIV, die sehr viele Menschen selbst aus der Community oder aus dem Gesundheitsbereich noch haben. Die Einstellungen haben sich in den letzten zwanzig Jahren eigentlich nicht geändert. Zu diesem Ergebnis kommt die zweite Auflage einer aktuellen Studie der Deutsche Aidshilfe (DAH) und des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ). „Menschen mit HIV können heute leben, lieben und arbeiten wie alle anderen. Schwerer als die gesundheitlichen Folgen der HIV-Infektion wiegen für viele die sozialen Folgen. Ein Großteil der Befragten unserer Studie ist im Alltag weiterhin mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Abwertung konfrontiert“, fasst Matthias Kuske, Projektkoordinator bei der DAH, die Ergebnisse zusammen. So machten 56% der online Befragten im letzten Jahr mindestens eine negative Erfahrung. 16% berichten, dass ihnen mindestens einmal eine zahnärztliche Versorgung verweigert wurde. 8% passierte dies bei allgemeinen Gesundheitsleistungen. Eine Konsequenz: Ein Viertel der Befragten legt seinen HIV-Status nicht mehr immer offen.
Für die deutsche Umsetzung des internationalen „People Living with HIV Stigma Index“ gaben knapp 500 Menschen mit HIV in Interviews nach einem standardisierten Leitfaden Auskunft zu ihrem Leben mit HIV. Fast 1.000 HIV-positive Menschen haben zusätzlich einen Online-Fragebogen über ihre Diskriminierungserfahrungen und die persönlichen Folgen ausgefüllt. In Fokusgruppen wurden die Ergebnisse vertieft.
Herausgekommen sind auch sieben Forderungen und 17 konkrete Handlungsempfehlungen. „Unsere Untersuchung zeigt klar, dass HIV in unserer Gesellschaft weiterhin mit einem Stigma verbunden ist. Wir brauchen weiterhin Aufklärung der Bevölkerung zu den positiven Folgen der HIV-Therapie sowie eine mediale Verbreitung vorurteilsfreier Erzählungen vom Leben mit HIV“, betont Dr. Janine Dieckmann, wissenschaftliche Projektleiterin beim IDZ.

Interview mit Andreas Häner, dem kreativen Kopf der Studie

dar. Andreas Häner aus Münster ist einer der Interviewer der neuen Studie. Das Besondere: Interviewer und Befragte waren beide HIV+. Wir sprachen mit Andreas, fragten ihn, warum er ausgewählt wurde und ob es Unterschiede für die eigene Lebensqualität macht, ob man sich in Bezug auf den HIV-Status outet oder nicht. Außerdem erzählt Andreas uns, was ihn so richtig wütend macht.

Andreas, für die Studie positive stimmen 2.0 hast Du Menschen mit HIV zur HIV-bezogenen Diskriminierung befragt. Es waren Peer-to-Peer-Interviews. Du bist selbst HIV-infiziert. Wie wurdest Du Teil des Interviewer-Teams? Warum hast Du mitgemacht?

So ganz genau weiß ich das gar nicht mehr. Ich bin in Sachen HIV aktivistisch unterwegs, unter anderem auch im Projekt Buddy.hiv – Deine Starthilfe für ein Leben mit HIV, und hier vor allem im Münsterland unterwegs. Die Interviewer wurden ja so gesucht, dass möglichst alle Regionen in Deutschland einigermaßen abgedeckt sind. Und so war ich dann für das Münsterland mit an Bord.
Warum ich mitgemacht habe? Ich fand und finde, dass Stigmatisierung und Diskriminierung heute die zentralen Themen von Menschen mit HIV sind. Die medizinischen Fortschritte sind grandios, aber die gesellschaftlichen hinken da noch sehr stark hinterher. Mit HIV können wir leben, mit Vorurteilen nicht!

Kannst Du uns den Ablauf eines Interviews kurz erklären?

Nach der ersten Kontaktaufnahme haben wir uns an einem ruhigen Ort verabredet. Ich habe mich und das Projekt nochmal kurz vorgestellt, habe meine Verschwiegenheit ausdrücklich versichert und darauf hingewiesen, dass es jederzeit möglich ist, einzelne Fragen nicht zu beantworten oder die Befragung ganz abzubrechen.
Dann sind wir Frage für Frage einzeln durchgegangen. Manche fragen wurden ganz kurz beantwortet, bei anderen entstand ein Gespräch über die erlebte Situation. Gemeinsam haben wir die Situation reflektiert, manches kam mir ja auch selbst bekannt vor oder kannte ich von anderen. Das wurde als hilfreich erlebt, dass andere Menschen ähnliches erlebt haben. Die Interviews dauerten zwischen einer und bis zu vier Stunden.

War es schwer, HIV-Infizierte zu finden, die bereit waren für eine Befragung? Vielleicht waren einige der Befragten in Bezug auf HIV geoutet, andere nicht. Hast Du die Befragten in dem Fall unterschiedlich erlebt?

Zunächst habe ich alle kontaktiert, die ich selbst kenne. Darüber habe ich die lokalen Aidshilfen im Münsterland und die Schwerpunktpraxen kontaktiert. Durch die Corona-Pandemie sind dann aber auch zunächst einige Interviews nicht zustande gekommen. Später dann gab es auch die Möglichkeit, über Zoom zu interviewen. Insgesamt war aber schon sehr viel Eigeninitiative notwendig, um an Gesprächspartner zu kommen.
Es gab Befragte, die waren komplett, andere ein bisschen und auch welche, die (noch) gar nicht geoutet waren. Und ja, das hat einen Unterschied gemacht. Bei den Positiven Stimmen 2.0 ist herausgekommen: Je mehr jemand geoutet ist, desto weniger Stigmatisierung erlebt die Person. Vielleicht kann man sagen, dass bei den wenig Geouteten die Selbststigmatisierung höher war und bei den mehr Geouteten tatsächlich erlebte Diskriminierung im Vordergrund stand. Allerdings gibt es auch bei komplett Geouteten Selbststigmata. Immerhin haben etwa ein Viertel gesagt, dass sie sich aufgrund von HIV schämen bzw. schuldig fühlen. Fast zwei Drittel verstecken ihren HIV-Status vor anderen. Das vielleicht einzig Gute daran ist, dass es mit der Dauer der Infektion abnimmt.

Was sind aus Deiner Sicht die überraschendsten Erkenntnisse der Studie?

Für mich persönlich waren das vor allem die Aspekte rund um die Selbststigmatisierung. Vor allem bei den Antworten auf „Schämst du dich?”, „Fühlst du dich wertlos oder schmutzig?”, „Fühlst du dich schuldig?” war ich sehr berührt, betrübt und später dann richtig wütend. Für mich hat es zur Folge gehabt, dass ich mich selbst nochmal bei ganz vielen Menschen geoutet habe. Ich wünsche mir, dass auch andere durch die Interviews vielleicht die Kraft dazu gefunden haben.

Warum gibt es heute in der schwulen Community nach wie vor Ablehnung, Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV?

Gute Frage: Vielleicht liegt es daran, dass das Wissen von n = n (nicht nachweisbar = nicht ansteckend) zwar in vielen Köpfen angekommen ist, aber noch nicht im Bauch. Ich denke mir, dass da vielleicht die gleichen Mechanismen der Selbststigmatisierung wirken, wie bei den Positiven. Wenn HIV-Positive Scham, Schuld, Verantwortungslosigkeit, Gefühle von Wertlosigkeit spüren und erleben, dann will ich mich davor schützen, denn es bedroht meine Integrität. Immer noch hört man den Satz „Wer sich heute noch infiziert, ist selber schuld!”

Was sollte, was könnte die Community tun?

Die Community sollte endlich mal zur Kenntnis nehmen, dass HIV 2021 nicht mehr mit dem HIV von zehn oder zwanzig Jahren zu tun hat. HIV ist heute eine gut behandelbare chronische Infektion. Unter Behandlung ist eine Ansteckung auch beim Sex nicht mehr möglich. Schuldzuweisungen, Beschämungen haben da nichts mehr zu suchen. Vielleicht reflektieren wir alle mal, was wir heute noch mit HIV verbinden. Menschen mit HIV sind ein Teil der Community. Mit HIV können wir gut leben, was es schwer macht, sind Vorurteile und Diskriminierung. Wir sind verantwortungsvoll, seid ihr es auch!

Welche Veränderungen sind am dringendsten?

Die Ergebnisse der Studie müssen jetzt breit bekannt gemacht und offen diskutiert werden. Die Forderungen und Empfehlungen daraus müssen zeitnah umgesetzt werden. Und jeder Mensch sollte wissen, dass HIV im Jahre 2021 nichts mehr mit den Bildern der 80er und 90er Jahre zu tun hat. Es hat z. B. lange gedauert, Sex mit Kondom als normal und verantwortungsvoll zu etablieren. Genauso konsequent und beharrlich muss auch Stigmatisierung und Diskriminierung öffentlich thematisiert werden.

Was könnten HIV-Infizierte machen?

Nun, vielleicht noch mehr Gesicht zeigen. Jeder in seinem Rahmen. Ich glaube, dass es noch viel zu viele in der schwulen Community gibt, die denken, dass sie niemanden kennen, der HIV+ ist. Aber ich weiß auch, wie schwer das ist, mit dem Gesicht zeigen. Was mir persönlich dabei geholfen hat, sind die Kontakte mit anderen HIV+ Menschen. Je mehr ich davon hatte, desto stärker bin ich geworden, und umso mehr weiß ich mich zu wehren. Ich erlebe die HIV-Community wirklich als Community.

Weitere Informationen und Download der Broschüre: www.positive-stimmen.de/ergebnisse

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